Ende 2014 wurden mehr als 500 neue Wörter und Wendungen in das Oxford English Dictionary aufgenommen, unter anderem die „good-enough mother”.
Der Begriff „good-enough mother” (was so viel wie „ausreichend gute Mutter“ bedeutet) wurde von Donald Woods Winnicott (April 1896–28. Januar 1971) geprägt, einem englischen Kinderarzt und Psychoanalysten, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen signifikanten Wandel der Einstellungen zur Mutterschaft herbeiführte. Winnicott sprach sich für einen weniger starren Erziehungsansatz aus als die meisten „Experten“ seiner Zeit und vertrat die Ansicht, dass eine Mutter ihre Rolle am besten erfüllt, wenn sie ihren Gefühlen vertraut. Vielleicht noch wichtiger ist jedoch Winnicotts Konzept des „failing”, das er im Zusammenhang mit der Definition der „good-enough mother“ in einem Artikel erläuterte, den er 1953 für das Magazin International Journal of Psycho-analysis verfasste: Laut Winnicott ist die Mutter mit ihrem Neugeborenen zu einer Einheit verschmolzen und stellt all ihre Bedürfnisse hinter dessen Bedürfnisse zurück. Doch je älter das Baby wird, desto stärker löst sich die Mutter aus dieser engen Verbindung, wobei sie sich an der zunehmenden Fähigkeit des Kindes orientiert, mit diesem Lösungsprozess umzugehen. Das Kind lernt so, dass die Mutter seine Bedürfnisse nicht immer erfüllt bzw. erfüllen kann (sie „scheitert“ an dieser Aufgabe), wodurch seine Auseinandersetzung mit der Außenwelt und letztlich seine Anpassung an diese gefördert wird. Winnicott ermutigte Frauen, sich selbst nicht zu stark unter Druck zu setzen, um dem Bild der perfekten, hingebungsvollen Mutter zu entsprechen, die ihnen von Experten und in Ratgebern stets als Vorbild präsentiert wurde. Seiner Definition nach geht die ausreichend gute Mutter in ausreichendem Maße auf die Bedürfnisse ihres Babys ein, versteht ihr „Scheitern“ (aus der Sicht des Kindes) jedoch als einen natürlichen Bestandteil ihrer Aufgabe, ihr Kind auf dem Weg in ein unabhängiges Leben zu begleiten.
Heute, im 21. Jahrhundert, wird endlos darüber diskutiert, wann ein Kind bereit ist, mit diesem „Scheitern“ der Mutter umzugehen und wie sich dieses „Scheitern“ äußert. Mütter werden in Bezug auf jeden einzelnen Erziehungsaspekt von „Erziehungsexperten“ mit Ratschlägen und Tipps überschüttet. In den Print-Medien und online wird alles genau unter die Lupe genommen, analysiert und kritisiert – ganz egal, ob es um die Beikost geht (Ihr Kind hat doch hoffentlich nur Bio-Brei bekommen?) oder das Töpfchen-Training. Wer sich an einer Online-Diskussion zwischen jungen Müttern beteiligt, muss nicht lange warten, bevor es Vorwürfe hagelt: Du gibst deinem noch nicht mal 6 Monate alten Baby Cornflakes?? (Die Experten sagen: Keine feste Kost, bevor ein Kind 6 Monate alt ist!) Du kaufst deinem Kind einen Lutscher, um einen Wutanfall zu vermeiden?? (Du Rabenmutter!) Wir leben im Zeitalter der Supermutter und da hat man oft das Gefühl, dass Winnicotts ausreichend gute Mutter eben doch nicht ausreicht.
Bei der Mutter, die 2012 für das Cover einer Ausgabe des Time Magazine beim Stillen ihres 3 Jahre alten Sohnes abgelichtet wurde (der dabei übrigens auf einem Stuhl steht), könnte es sich um ein solches Supermutter-Exemplar handeln. Der Titel dazu lautet: „Are you mum enough?“, was sich in etwa mit „Bist du als Mutter gut genug?“ wiedergeben lässt. In dem dazugehörigen Artikel geht es um das sogenannte Attachment Parenting, einen aktuellen Erziehungstrend, der mit Langzeitstillen, gemeinsamem Schlafen im Familienbett und Tragetüchern statt Kinderwägen einhergeht. Dieser Ansatz hat zweifellos viele positive Aspekte, spaltet die Mütter jedoch in verschiedene Lager: Manche Frauen schwören darauf, andere finden es überaus anstrengend oder kaum praktikabel, ihr Leben darauf abzustellen. Das Traurige ist, dass wir trotz der weisen Worte von Donald Winnicott vor so vielen Jahren heute immer noch in einer Gesellschaft leben, in der die Erziehungsentscheidungen von Müttern konstant infrage gestellt werden und sich Frauen mit Kindern (nicht nur vom Times Magazine) die Frage gefallen lassen müssen, ob sie als Mütter gut genug sind. Wir sind sicher nicht alle Supermütter, aber manchen von uns reicht es eben auch, eine ausreichend gute Mutter zu sein.




